Mittwoch, 22. Dezember 2010

23.12.2010

moderne Fassung der Weihnachtsgeschichte

http://www.youtube.com/watch?v=vZrf0PbAGSk

22.12.2010

Ein Dankeschön an alle Dienstleister

Sie wollen es in Silber eingepackt? Klar, gerne. Das wie vielte Paket das heute ist? Keine Ahnung. Wenn ich jetzt ernsthaft anfange, darüber nachzudenken, könnte es passieren, dass ich auf der Stelle ohnmächtig werde. Ich kann es nur grob überschlagen und würde mal zweihundertdreiundzwanzig schätzen. Aber es sind wahrscheinlich viel viel mehr. Die Devise hier ist klar: nicht nachdenken, einfach weitermachen.

Und es kommt ja auch immer was Schönes bei raus. Wollen Sie die Schleife gekräuselt? Ach, Sie mögen keine Kräusel. Ja, ich auch nicht. Die halten nämlich auf.
Eigentlich studiere ich Sinologie und Byzantinische Kunst. Damit kann man mal richtig reich werden. Zwar nicht in diesem Leben, aber ich liebe es trotzdem. Einmal im Jahr verdiene ich für meine Verhältnisse richtig viel Geld. Und zwar in der Weihnachtszeit. Gutes Personal ist in diesen Wochen besonders gefragt. Mit gut meine ich belastungsfähig, über alle Maßen freundlich, hochmotiviert, in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, gerne auch mehrsprachig – neben Chinesisch spreche ich auch ganz passabel Russisch und Englisch – und mitdenkend. Ja, das bin ich.

In den vergangenen Jahren konnte ich meine Talente auf dem Weihnachtsmarkt an der Crepes-Bude so richtig ausleben. Von mittags um 12 bis 24 Uhr habe ich die dünnen Dinger gebacken. Mit Nutella, ohne Nutella, mit Zucker, dafür ohne Zimt, mit Grand Marnier oder Eierlikör. Punktgenau nach drei Wochen – eine schöne Routine jedes Jahr – musste ich erst zum Orthopäden, dann zum Urologen. Sehnenscheiden- und Blasenentzündung. Deshalb habe ich beschlossen, dieses Jahr einen Job im Warmen anzunehmen. In einem gut geheizten Kaufhaus. Und da bin ich jetzt.

Ich stehe beim Parfüm, helfe Herren, den passenden Duft für ihre Damen zu finden und verpacke anschließend das eigentlich ja von mir ausgewählte Geschenk. Und ich habe einen wirklich guten Geschmack. Das Einpacken allerdings verlangt dann, viel mehr als alles andere, Geschick und Fingerspitzengefühl. Deshalb habe ich bereits im September, als ich beschloss, den Job anzunehmen, mit dem Übungsprogramm begonnen. Schleifen binden, Bänder kräuseln, Papier falten, Dekorationsartikel befestigen und so weiter. Wichtiges Detail beim Verpacken – Tesafilm darf auf keinen Fall irgendwo zu sehen sein. Im Dezember fordert dieser gesamte Prozess viel mehr Tempo, viel mehr Druckresistenz als an einem Übungsabend im goldenen Herbst bei mir zu Hause.

Wir haben mittlerweile den 22. Dezember. Zwei Tage noch! Inzwischen habe ich gefühlte drei, vielleicht auch vier Millionen Schleifen gebunden. In echt warens ca. dreitausendfünfhundert – aber es hat für hässliche Hornhaut an den Findern und beginnende Arthrose gereicht. Ehrlich? Ich bin pappesatt. Ich habe auch nicht mehr lange Verständnis für Extrawünsche. Können Sie bitte das pinkfarbene Band wieder abmachen und durch ein rotes ersetzen? Grrrr….. so müssen sich Mörder kurz vor der Tat fühlen. Nee, können Sie die bitte einzeln einpacken? Ich weiß, es ist alles für meine Mutter, aber dann hat sie mehr zum Auspacken! Richtig, und ich habe dafür mehr zum Einpacken. Vielen Dank! Och, tun Sie mir doch den Gefallen, und packen mir die Hundeleine auch ein? Okay, das habe ich nicht bei ihnen gekauft, aber Sie machen das so schön….. Dann passt das alles irgendwie so hübsch zusammen. Was hier überhaupt nicht passt, sind die übersteigerten Ansprüche der werten Kundschaft. Und dabei immer lächeln. Manchmal habe ich Angst, die Grübchen in meinem Gesicht bleiben für immer stehen.

Hatte ich schon erwähnt, dass sich das Kaufhaus nur eine CD leisten kann? Seit drei Wochen singen Albano und Romina Power Weihnachtslieder, von bis 22 Uhr. Aus allen Lautsprechern, auf jeder Etage, überall das gleiche Geplärre. Und das, obwohl die doch schon längst geschieden sind. Diese familienfreundliche CD von 1987 soll das Kaufverhalten unserer Kunden unterstützen und sie motivieren, möglichst lange bei uns zu verweilen. Eine Kollegin von mir, die hier schon seit zweiundzwanzig Jahren arbeitet, behauptet, man höre es irgendwann nicht mehr. Bei mir trifft das nicht zu. Ich höre jeden einzelnen Takt. Zu Hause und im Auto gibt’s deshalb nur noch Hardrock. Und ich fahre jetzt immer, egal wie kalt es ist, mit offenem Fenster heim. Das bin ich meiner Haut und meinem gesamten Organismus schuldig.
Bei dieser stickigen, überheizten, sauerstoffarmen und von Tausenden Menschen weggeatmeten Luft kann man den eigenen rapiden Alterungsprozess erstaunlich genau beobachten. Sind ja auch überall Spiegel. Wenn ich da nicht mit einem halben Liter Schminke hantiere, sehe ich aus wie eine Wasserleiche. Blass und unscheinbar. Gehe ich allerding mit meinem Voll-Make-up auf die Straße, könnte man mich glatt einer anderen Berufsgruppe zuordnen. Letzte Woche musste ich mir das erste Mal Schuhe in Größe 38 kaufen, obwohl ich eigentlich 37 trage. So ausgelatscht sind meine Füße inzwischen. Das alles ist aber nicht gegen dieses Weihnachtsgeschenkeeinpacken und Schleifenbinden im Akkord. Und kurz vor Weihnachten bis 22 Uhr. Jeden Tag.

Zusätzlich macht es immer den Eindruck, als wüsste es niemand zu schätzen. Anstatt mich dankbar anzustrahlen, mir ein Lächeln für meine guten Taten zu schenken, zu würdigen, was ich leiste, kommen die meisten zickig, unhöflich und unendlich genervt zu mir und meckern noch, wenn sie warten müssen. Die Gesichter der Kunden sin alle gleich. ICH WILL! Und zwar SOFORT! Ist mir wurscht, liebe Verkäuferin, was Sie so wollen, Sie werden dafür bezahlt.
Aber schlecht, würde ich gerne antworten. Schön ist auch: Deutschland ist eine Dienstleistungswüste! Hier läuft doch was schief. Wer, bitte schön, bindet denn hier die Millionen Schleifen? Die Ungerechtigkeit weckt das Bedürfnis in mir, auf eine Kasse zu springen und mit einem Mikrophon in der Hand an die verschwitzte Meute einen Appell zu richten: Stillgestanden und Ruhe! So und jetzt alle im Chor: Liebe Verkäuferinnen und Verkäufer! Wir sagen danke für euren selbstlosen und schlecht bezahlten Einsatz. Wiederholen Sie diesen Satz. Und wiederholen Sie ihn noch mal. Und jetzt singt die Hymne: Danke, für eure guten Taten, danke für euer Engagement, danke dass ich hier kaufen darf und das rund um die Uhr.

In meiner Mittagspause versuche ich, meine eigene Geschenkeliste abzuarbeiten, und wundere mich jedes Mal, dass das Gesundheitsamt den Laden noch nicht dichtgemacht hat. Eine Woche vor Weihnachten einkaufen gehen, birgt definitiv viele Risiken. Vielleicht sollte man an den Eingangstüren Warnschilder anbringen wie auf Zigarettenpackungen: ACHTUNG! DAS BETRETEN DIESES ÜBERFÜLLTEN GESCHÄFTES ZU DIESER JAHRESZEIT GEFÄHRDET IHRE GESUNDHEIT.
Alle kommen mit Wollmützen, Schals und dicken Mänteln aus minus vierzehn Grad in plus vierunddreißig und schieben sich von Kasse zu Kasse. Welcher Kreislauf soll denn das aushalten? Meiner schwächelt dabei immer ein wenig. Der Hitzekoller ist eine Sache. Besonders anstrengend ist der Einsatz der Ellenbogen. Hier kommt nur durch, wer hart ist – im Nehmen und Einstecken.
Wer hier anständig rauskommt, ohne jemanden niederzuschlagen, die Füße zertrampelt, die Arme oder die Nase gebrochen zu haben, erst der hat sich dann das Weihnachtsfest richtig verdient.
Während ich mich durch das Kaufhaus schieben lasse, mache ich mir Gedanken über meine Kollegen – wi haben die sich und ihr Weihnachtsfest organisiert? Wann gehen sie ihren eigenen Kram einkaufen? Wann holt die Kassiererin, die den ganzen Tag damit beschäftigt ist, Lebensmittel einzuscannen, ihre eigene Gans aus der Tiefkühltruhe des Supermarktes?
Wann hat das letzte Mal ein Kunde ihr dafür gedankt, dass ein Weihnachtsfest auf ihre Kosten möglicherweise üppiger ausfällt als ihr eigenes?

Ich könnts doch mal tun. In der Mittagspause. Statt selber für mich zu shoppen, gehe ich mit einer riesigen Tüte vollgestopft mit Parfümproben , die wir den Kunden jetzt nicht auch noch hinterherwerfen müssen, durch alle Abteilungen und sage mal danke! Danke Frau Müller von der Wurst, danke Frau Hempel aus der Herrenoberbekleidung, danke, Herr Friese bei den Flachbildschirmen, danke, Herr Schneider, danke Frau Rosendahl, danke, danke, danke.

Ja, ich singe sogar:
Danke, für diese Öffnungszeiten
Danke, für Service und Geschick
Danke für euren guten Rat und manches Meisterstück

(Einen Halbton höher!)
Danke, hier will ich immer kaufen
Danke, dass ihr so fröhlich seid
Danke, dass eure gute Laune mit die schlechte vertreibt

(Noch einen Halbton höher!)
Danke, ich freu mich schon auf Ostern
Danke, dann komm ich wieder her
Danke, dass ihr so super seid und davon will ich mehr

(Blöd. Zu hoch angefangen.)
Danke, dass hier der Kunde König
Danke, dass jeder Wunsch erfüllt
Danke, dass ihr euch nie beschwert, auch wenn der Chef mal brüllt (Fertig!)

Übrigens: Meine Kollegen befürchten jetzt schwere Weihnachtsdepressionen und Überforderung. Ob ich noch ganz dicht wäre? Hier so laut rumzusingen. Ich solle doch, bitteschön, niemanden von der Arbeit abhalten. So einen Zirkus könne ich am Crepes-Stand veranstalten, da würde es mich auch nicht so stressen wie hier.
Ein bisschen mehr Dankbarkeit hätte ich mir jetzt aber schon gewünscht.